Die Digitalisierung in Deutschland ist in vollem Gange und betrifft inzwischen alle Unternehmen gleichermaßen quer durch sämtliche Branchen und Sektoren. Sei es bei der Beschaffung von Informationen, der Kommunikation, bei Produktionsprozessen, Arbeitsabläufen etc. Für viele Unternehmen, aber auch Behörden und öffentliche Organisationen, ist der digitale Wandel jedoch nach wie vor eine große Herausforderung. RKW-Experte Dr. Matthias Geissler sprach mit uns über Facetten der Digitalisierung in Deutschland, über den aktuellen Stand, über Risiken, Hürden und Chancen auf dem Weg zur erfolgreichen Bewältigung des digitalen Wandels. Das Interview führte Frank Bärmann, unser langjähriger Partner der PR-Agentur conpublica.
Förderung der Digitalisierung beim RKW Kompetenzzentrum
Herr Dr. Geißler, vielen Dank, dass Sie uns für ein Interview zur Verfügung stehen. Bitte stellen Sie sich kurz unseren Lesern vor.
Mein Name ist Matthias Geissler, ich bin 39 Jahre alt und leite seit Mai 2020 den Fachbereich „Digitalisierung und Innovation“ beim RKW Kompetenzzentrum. Zuvor war ich unter anderem beim Max-Planck-Institut für Ökonomik Jena, an der Universität Kassel und der Technischen Universität Dresden beschäftigt. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena habe ich Betriebswirtschaft/Interkulturelles Management studiert und dort auch promoviert.
Was gehört als Leiter des Fachbereichs „Digitalisierung und Innovation“ beim RKW Kompetenzzentrum zu Ihrem persönlichen Aufgabenspektrum?
Ich verantworte und koordiniere die Fachbereichsprojekte, die Gremienmitarbeit (z.B. in der Kommission Mittelstand des DIN e.V.), die Abstimmung mit unserem Mittelgeber (BMWi), die Vernetzung sowie die Fortentwicklung der Inhalte und Themen des Fachbereiches. Zudem verantworte ich die fachliche und disziplinarische Führung für aktuell 13 Mitarbeiter.
Welches Ziel verfolgt das RKW Kompetenzzentrum?
Das RKW Kompetenzzentrum ist ein gemeinnütziger und neutraler Impuls- und Ratgeber für den deutschen Mittelstand. Unser Angebot richtet sich an Menschen, die ihr etabliertes Unternehmen weiterentwickeln ebenso wie an jene, die mit eigenen Ideen und Tatkraft ein neues Unternehmen aufbauen wollen. Unser Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit im Mittelstand, insbesondere im Bereich Digitalisierung, aber auch Fachkräftesicherung und Gründung/Nachfolge zu steigern und zu fördern.
Was Digitalisierung ist und wo sie stattfindet
Kommen wir nun zum Kernthema Digitalisierung. Wo findet diese Ihrer Meinung nach statt?
Wenn Sie eine kurze Antwort hören wollen: derzeit „überall“. Die lange Antwort lautet: in sehr vielen privaten und beruflichen Lebensbereichen. Die eigentliche Grundlage der Digitalisierung ist ja nur die Nutzung eines neuen Mediums/einer neuen Form zur Speicherung von Daten/Informationen. Dieses Medium ist aber sehr flexibel, sodass erstens viel mehr Daten erhoben und gespeichert werden können und zweitens deren Bearbeitung und Verarbeitung sehr viel leichter ist. Dies wiederum führt zu einer (digitalen) Revolution in vielen Bereichen, wie beispielsweise Kommunikation, Prozesssteuerung, Unterhaltung, Entscheidungsfindung, Automatisierung etc.
Der Haken an der Sache ist, dass die Herausforderungen und die „Widerstände“ durch bestehende Systeme und Logiken wie bei vielen tiefgreifenden Umbrüchen groß sind und wir alle Zeit brauchen zur Überwindung oder „Versöhnung“ mit der neuen Technik. Denken Sie an die Ersetzung manueller Arbeit durch Dampfmaschinen oder die Verdrängung von Pferdekutschen durch Automobile in früheren Zeiten. Nicht umsonst wird die flächendeckende Nutzung von Computern als dritte „Industrielle Revolution“ und die umfassende digitale Vernetzung als vierte bezeichnet.
Chancen und Risiken der Digitalisierung in Deutschland
Welche Chancen und welche Risiken sehen Sie in der Digitalisierung?
Als Chancen zähle ich einfach mal auf:
- Weitere Fortschritte in der Automatisierung durch Vernetzung von Prozessen, Standardisierung etc.
- Neue wissenschaftliche Erkenntnisse durch neue Daten, neue Verfahren/Methoden/Rechenkapazitäten/Mustererkennung
- Mehr Sicherheit durch mehr Kontrolle (beruflich, aber auch privat)
- Stärkerer kultureller Austausch durch globale Vernetzung/Möglichkeiten von Kommunikation
- Bewältigung größerer Herausforderungen durch bessere Koordinationsmöglichkeiten
- Bessere Konservierung von Wissen, in Zukunft auch mit besseren Filtermöglichkeiten
- Zeitliche und örtliche Unabhängigkeit von Zugriffen auf bestimmte staatliche Dienste (z.B. im Meldewesen o.ä.; ähnlich zum Online-Banking).
Als Risiken wären zu nennen:
- Zu starke Entpersonalisierung (auch damit verbunden: Enthemmung durch Anonymisierung in der Kommunikation)
- Verlust von Erfahrungswissen in stark automatisierten Berufsbereichen
- (psychischer) Stress durch Informationsüberflutung im persönlichen Bereich,
- Gesundheitsprobleme allgemein
- Rebound-Effekte (z.B.: Stärkere Technisierung verbraucht genau die Ressourcen, die die Lösung eigentlich einsparen soll; plakativer: Stromverbrauch steigt statt zu sinken.)
- Schnittstellenprobleme durch mangelnde Standardisierung
- Fehlschlüsse/„ethische Entkoppelung“ bzw. übertriebene Versachlichung ethischer Fragen (z.B. Wie soll eine KI entscheiden, wenn es um Menschenleben geht?)
- Eingriffe in Persönlichkeitsrechte
Wo steht Deutschland aktuell bei der Digitalisierung?
Ich würde sagen, dass wir uns im Mittelfeld befinden, je nach Bereich manchmal etwas weiter vorn und manchmal etwas weiter hinten im Mittelfeld. Global gesehen sind wir definitiv nicht „top 3“, aber auch nicht „digitale Ödnis“, wie vielleicht manchmal befürchtet wird.
Digitalisierung in Unternehmen und Behörden: Eine Bestandsaufnahme
In welchem Ausmaß hat die Digitalisierung bei Unternehmen bzw. öffentlichen Organisationen und Behörden in Deutschland bereits Einzug gehalten?
Bei den Unternehmen sehe ich das Ausmaß der Digitalisierung als durchaus durchwachsen an. Es gibt viele Pioniere, es gibt aber auch die Abgehängten. Manchmal fehlt es auch noch an einem Zusammenspiel einzelner Bereiche, die für sich gut digitalisiert sind. Kommunikation und Produktionssteuerung sind beispielsweise relativ weit. Dies ist natürlich aktuell auch befördert durch Covid-19 hinsichtlich ortsunabhängigem Arbeiten, Homeoffice oder virtuellen Meetings. Die Ausrichtung ganzer Geschäftsmodelle auf „digital“ ist hingegen eher schleppend. Die Gründe sind hier sehr vielfältig. Viele Unternehmen „fremdeln“ mit den „allerneuesten“ Entwicklungen aufgrund von allzu großen Risiken, Widerständen in der Belegschaft, Rechtsunsicherheiten und manchmal auch einer fehlenden Fantasie für die Umsetzung und den Mehrwert.
Auch bei den öffentlichen Organisationen, insbesondere den Behörden sehe ich Licht und Schatten. Insgesamt bleiben wir in dem Bereich noch hinter den heutigen Möglichkeiten zurück. Einerseits haben gesetzliche Vorgaben zur Einführung bestimmter Prozesse (z.B. EGovG) tatsächlich große Fortschritte gebracht. Andererseits gibt es „von oben“ wenig „Belohnung“ für schnelle, risikoreiche Lösungen. Hier spielt auch der Föderalismus eine Rolle. Er kann zu Schwierigkeiten bei Realisierung des potenziell größten Nutzens von Digitalisierung führen, beispielsweise zu Problemen durch technische Insellösungen ohne Schnittstellen.
Dazu kommt, dass die digitale Kompetenz bei Mitarbeitern in der Breite unterentwickelt ist. Zusätzlich herrscht ein großer Fachkräftemangel ohne Aussicht auf Besserung. Den meisten IT-Fachkräften werden beispielsweise die Entlohnungsmöglichkeiten nach Tarifrecht im öffentlichen Dienst nur ein müdes Lächeln ins Gesicht zaubern.
Schließlich können die oft sehr enge Auslegung gesetzlicher Vorgaben (z.B. DSGVO) und z.B. Beschaffungsrichtlinien im öffentlichen Dienst mit faktischen Realitäten und Dynamik der technischen Entwicklung im Bereich Digitalisierung selten mithalten.
Welche Geschäftsbereiche bzw. Unternehmensprozesse werden Ihrer Meinung nach künftig am stärksten von der Digitalisierung verändert werden?
Hier sehe ich vor allem vier Bereiche:
- Führung, Organisation und Hierarchien, weil da noch jede Menge Luft ist.
- Aus- und Weiterbildung, weil da ebenfalls noch jede Menge Luft ist.
- Design und Entwicklung beispielsweise durch KI
- Die Geschäftsmodelle im Ganzen, hier wird der Wert/Kundennutzen nicht durch Kernprodukt/-leistung, sondern durch digitales Zusatzangebot definiert bzw. das digitale Angebot wird zum Produkt-/Leistungskern.
Hindernisse der Digitalisierung in Deutschland
Welche Hürden sehen Sie für die Digitalisierung in deutschen Unternehmen und Behörden?
Bei den Unternehmen sehe ich folgende Hürden:
- Investitionsstau; Digitalisierung „2.0“ muss erst stattfinden, um „Digitalisierung 4.0“ zu starten
- Denken in „Kernprodukten“ statt in „Nutzenbündeln“
- Fachkräftemangel
- Fehlende Fantasie/Vision/Risikobereitschaft
- Langwierige gesetzliche Vorgaben/Zulassungen/Standardisierungsprozesse (5G, Glasfaserausbau, DSGVO etc.)
- Rechtsunsicherheit (z.B. DSGVO)
Bei den Behörden sind es teilweise ähnliche Hürden:
- Fachkräftemangel
- Lange Abstimmungsprozesse
- Risikoaversion, mangelnde Flexibilität
- Fehlende „Kundenorientierung“ und fehlendes Denken in „Kundennutzen“
Laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung haben 37 Prozent der Deutschen das Gefühl, dass sich die digitale Technik so schnell entwickelt, dass sie nicht mehr mithalten können. Können Sie diese Zahlen nachvollziehen?
Ja, allerdings nur, wenn Sie drei Dinge in die Betrachtung einbeziehen:
Erstens: die demografische Situation in Deutschland mit Blick auf die Altersverteilung. Schon in der Studie steht, dass es stärker Personen 65+ sind, die sich abgehängt fühlen (was nachvollziehbar, aber beispielsweise für die Arbeitswelt auch unerheblicher ist).
Zweitens: den Umstand, dass Personen unter 18 Jahren in der Regel für solche Studien nicht herangezogen werden (dürfen), d.h. es sind „37 Prozent der Deutschen über 18 Jahre“.
Drittens: die Tatsache, dass es eben „ein Gefühl“ ist. Ein Beispiel: Mit dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ wird man an allen Ecken bombardiert, ohne dass die Mehrheit der Leute sich darunter konkret etwas vorstellen kann. Aber die meisten kennen „Terminator“ und haben entweder Angst, dass Skynet die Weltherrschaft übernimmt oder ihnen jetzt auch noch eine Maschine den Job wegnimmt, weil sie in Zukunft besser denken kann …
Erfolgreiche Digitalisierung: So geht’s
Welche Voraussetzungen braucht ein Unternehmen für die erfolgreiche Digitalisierung?
Hier müssen wir zwischen den Führungskräften und den Mitarbeitenden unterscheiden. Die Führungskräfte müssen folgende Voraussetzungen bzw. Qualifikationen mitbringen:
- Offenheit, Vorbildfunktion, Ängste/Sorgen der Mitarbeiter ernst nehmen (und argumentatives oder technisches Entgegenwirken)
- Fähigkeit zur Vision
- Mindestens etwas technisches Verständnis oder Bereitschaft zu lernen sowie die eigene Bereitschaft zum Einsatz digitaler Instrumente/Hilfsmittel
- Hinterfragung der Sinnhaftigkeit. Damit meine ich, dass nicht alles, was technisch möglich ist, auch einen Mehrwert bringt.
- Die Mitarbeitenden müssen Vertrauen in die Führungskräfte investieren, Offenheit und Flexibilität sowie die Möglichkeit, Grenzen zu ziehen, mitbringen.
Wie kann die Digitalisierung der öffentlichen Hand vorangetrieben werden (Stichwort digitaler Staat, digitale Kommune)?
Fünf Punkte sind hier wichtig:
- Durch bessere Berücksichtigung von dem, was aktuell unter „User Experience“ oder „UX“ verstanden wird. Insbesondere junge Nutzer, also diejenigen, die sich verstärkt digitale Möglichkeiten wünschen, sind an gut funktionierende „angenehme“ bzw. komfortable Bedienung gewöhnt.
- Durch weniger, dafür schnell verfügbare und gut durchdachte Angebote und Lösungen
- Durch progressiveren Einsatz digitaler Instrumente vonseiten der öffentlichen Hand. Aktuell kann ich z.B. wegen Covid-19 tatsächlich meine Fernwärme beim städtischen Versorger mittels QR-Code direkt übermitteln und muss niemanden in mein Haus zum Ablesen lassen.
- Durch mehr Rechtssicherheit bei Handlungen mit Behörden „auf digitalem Wege“ und weniger „Dopplungen“ (handschriftliche Unterschriften, Formulare, Anträge etc.) innerhalb von Behörden
- Durch mehr staatliche Investitionen
Fazit: Erfolgsaussichten der Digitalisierung in Deutschland
Wie schätzen Sie die Zukunft für die Digitalisierung in Deutschland ein?
Auch wenn wir keine „Facebooks“ oder „Googles“ haben, sehe ich Deutschland auf einem soliden Weg in Sachen digitale Transformation. Trotz oder gerade wegen des deutschen Hangs zu überzogener Selbstkritik, der im anglo-amerikanischen Raum ja auch als „German Angst“ Einzug in den Sprachgebrauch gehalten hat, stehen Unternehmen in den deutschen Wirtschaftsstandort prägenden Bereichen gut da. Gesamtgesellschaftlich würde es uns vermutlich nicht schaden, etwas mutiger, „agiler“ vorzugehen und einfach den einen oder anderen Fehler zuzulassen, anstatt zu glauben, wir müssten auch in der „Digitalisierung“ von vornherein alles richtig machen.